Prof. Dr. Jack van der Veen ist Hochschulprofessor für Supply Chain Management an der international renommierten Nyenrode Business Universität, mit dem speziellen Schwerpunkt Kettenkooperation. Für Yellowstar nahm er sich 1,5 Stunden Zeit, um seinen Gedanken zu diesem Thema freien Lauf zu lassen. Dies ist Teil 1: „Man kann in einem Business Case alles Mögliche berechnen, aber am Anfang steht immer eine Vision.“

Sind Sie sich unsicher über den Wert eines Business Case?

„Unsere Umgebung verändert sich enorm schnell. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass wir es heute mit einem Krieg in der Ukraine zu tun haben? Ganz zu schweigen davon, dass die Folgen dessen abzusehen gewesen wären. So etwas steht nicht in einem Business Case. Eine Pandemie wie Corona auch nicht. Kurz, wer weiß, wie die Welt in fünf Jahren aussieht? Natürlich kann man Szenarien-Analysen durchführen und auf diese Weise etwas über die Zukunft erfahren. Doch die Vorstellung, dass man einen Business Case braucht, um eine strategische Entscheidung z.B. über die Wahl eines IT-Systems zu treffen, wirkt vor diesem Hintergrund eigentlich etwas lächerlich. Mit meinem Hintergrund als Ökonometrist kann ich Ihnen im Nu ein positives Ergebnis ausrechnen. Es kommt nur darauf an, was man eingibt. Häufig ist es nur ,how to lie with mathematics‘.“

Doch wie macht man es dann richtig?

„Meiner Meinung nach sollte es viel mehr gehen um strategische Faktoren. Wenn die Zukunft nicht vorhersagbar ist - und das ist sie in zunehmendem Maße nicht mehr - muss man als Logistikunternehmen auf Basis einer strategischen Vision vorgehen. Was will man als Unternehmen erreichen? Wofür steht man? Worin will man hervorstechen? Mit welchen Kettenpartnern arbeitet man? Welche Kundenwerte strebt man an? Nicht z.B. was mit Blockchain machen, weil es einem zufällig über den Weg läuft, sondern weil man eine klare Idee dazu hat. Anstatt eines Business Case geht es dann um ein strategisches Business Modell. Eine Investition in ein IT-System passt dann in die Vision oder nicht.“

Können Sie in Ihrem Umfeld beobachten, dass das so passiert?

„Meine Beobachtung ist leider, dass viele Logistikunternehmen an strategischer Armut leiden. Sie denken überhaupt nicht über eine strategische Vision nach, sondern handeln primär kurzfristig. Erst mal die nächste Krise überleben. Das geht zwar sehr lange gut, aber irgendwann kommen alle Problem gleichzeitig nach oben.“     

Welche Bedeutung hat die Digitalisierung in dem Ganzen?

„Zuerst einmal ist Digitalisierung ein Mittel, keine Strategie. Doch davon abgesehen ist Digitalisierung wirklich großartig. Durch die Erfassung und Verknüpfung von Daten wird das Logistikunternehmen optimiert und kann somit kostengünstiger arbeiten. Zugleich schafft Digitalisierung Transparenz. Das macht ein Unternehmen flexibel. In einem Umfeld, das wir heute als VUCA-Umgebung bezeichnen (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) wird das immer wichtiger. Die Möglichkeit, dank Digitalisierung Flexibilität und geringere Kosten zu verbinden, ist wirklich ein Durchbruch. In der Vergangenheit konnte man nicht sowohl flexibel als auch günstig sein. Flexibilität war per Definition teurer. Die Digitalisierung hat das verändert. Der Punkt ist auch hier, dass man als Unternehmen wissen muss, was man erreichen will. Will man flexibel sein und günstig? Oder hat man ganz andere Pläne? ,Start with the end in mind’, sagte schon der bekannte amerikanische Autor Stephen Covey. Welche Kundenwerte strebt man an? Zu oft sehe ich Logistikunternehmen, die ein Softwarepaket kaufen, ohne über ihre Strategie nachgedacht zu haben.“

Was ist für Sie also die Crux?

„Logistik nennt man auch die Kunst der intelligenten Organisation. ,Kunst‘ finde ich einen guten Ausdruck, die lässt sich nicht berechnen. Meiner Meinung nach geht es darum nämlich nicht. Es geht um die Vision, die Strategie eines Unternehmens. Natürlich muss man rechnen und möglichst viele Daten erheben. Aber verlassen Sie sich als Logistikunternehmen nicht blind auf den Business Case voller Unsicherheiten. Ich war selbst ein Rechner, aber glaube jetzt nicht mehr so sehr ans Rechnen. Man muss es sicher weiterhin tun, aber es ist nicht so, dass das Ergebnis unbedingt der Wahrheit entspricht.“